Ein Gastbeitrag von Anja Bierwirth, Leiterin des Forschungsbereichs Stadtwandel der Abteilung Energie-, Verkehrs- und Klimapolitik im Wuppertal Institut
In Zeiten von Corona haben sich unsere Städte massiv verändert. Der Beitrag blickt auf einige dieser Veränderungen und zieht erste Lehren für einen Wandel.
Die stillen Städte
Die aktuellen Bilder unserer sonst so belebten Innenstädte zeigen die Wirkungen von Ausgangssperren, Kontaktverboten, geschlossenen Läden und Unternehmen. Wann genau das Leben wieder hochgefahren wird, ist derzeit noch nicht absehbar. Doch es wird. Wird dann alles wie vorher? Oder können wir etwas mitnehmen, damit unsere Städte nach Corona lebenswertere und nachhaltigere Orte werden?
1 | Verkehr
Der reduzierte Verkehr ist vielleicht eins der auffälligsten Merkmale der aktuellen Situation. Wer heute durch Straßen geht, auf denen sich sonst die Autos stauen, stellt fest, wie unmittelbar weniger Autoverkehr die Aufenthaltsqualität im öffentlichen Raum steigert. Diese Qualität lässt sich beibehalten, wenn Autoverkehr in unseren Städten drastisch eingeschränkt, Alternativen geschaffen und das Leitbild der „Stadt der kurzen Wege“ konsequent umgesetzt wird.
2 | Pantoffelgrün
Weniger Verkehr braucht weniger Infrastruktur. Grünflächen statt Parkstreifen bieten Aufenthaltsqualität direkt vor der Haustür. Im Moment zeigt sich, wie wichtig Außenräume mit Erholungswert in der Nähe sind, wenn einem „die Decke auf den Kopf fällt“. Dieses Grün wird auch nötig sein, um unsere Städte an die Folgen des Klimawandels anzupassen.
3 | Wohnen
Draußen wie drinnen ist bei der Wohnqualität noch „Luft nach oben“. Die einen finden die erzwungene Häuslichkeit derzeit zwar eher erholsam, andere allerdings empfinden das „Eingesperrtsein“ als massive psychische Belastung. Was aber macht Wohnqualität aus? Der Trend der stetig wachsenden Wohnfläche in Deutschland ist aufgrund des immensen Flächen- und Ressourcenverbrauchs allein aus ökologischer Sicht nicht haltbar. Nun wird offenbar, dass auch aus sozialer Perspektive neue Wohnkonzepte gefragt sind.
4 | Nachbarschaft
Neue Wohnkonzepte können Nachbarschaftshilfe und Gemeinschaft befördern. Miteinander teilen, sich gegenseitig aushelfen und manchmal „nach dem Rechten sehen“ steigert das Gefühl der Sicherheit, hilft gegen Isolation (nicht zuletzt im Alter) und fördert das Wohlbefinden. Gemeinschaft kann anstrengend sein, ist aber – wie sich aktuell zeigt – ungemein wichtig für eine funktionierende Stadtgesellschaft. Dafür braucht es Orte der Begegnung – drinnen wie draußen.
5 | Wirtschaft
Nicht nur einzelne Menschen, auch Unternehmen zeigen im Lichte der Pandemie teils solidarische, teils sehr egoistische Strategien. Während einige ihre Produktion auf dringend benötigte Gesundheitsartikel umstellen, kündigen andere an, ihre Mieten nicht mehr zu zahlen. Gleichzeitig wird deutlich, wie anfällig globalisierte Wirtschaftsverflechtungen sein können. Regionalwirtschaft macht Städte resilient, also weniger anfällig in Krisenzeiten. Und schließlich wird gerade überdeutlich, welche Berufe – nicht wenige extrem schlecht bezahlt – die Grundlage von (Stadt)Gesellschaften sind, aktuell oft als „systemrelevant“ bezeichnet. Wir brauchen jetzt Strategien und Konjunkturprogramme zur Wiederbelebung der Wirtschaft, die das reflektieren zum Aufbau eines gemeinwohlorientierten Wirtschaftssystems.
6 | Digitalisierung
Hochkonjunktur haben zur Zeit digitale Anwendungen: Soziale Netzwerke, home schooling, home office, Online-Service bei Behörden... Es zeigt sich, in wie vielen Bereichen digitale Möglichkeiten gerade ungemein wichtig sind, um Bildung, Arbeit, soziale Kontakte und andere Bereiche so gut wie möglich aufrecht erhalten zu können. Es zeigt aber auch, wie ungleich die Zugänge verteilt sind: Eine Familie, die den Kindern nicht „mal eben“ einen Computer für die Online-Schule hinstellen kann, ist gerade abgehängt. Welche digitalen Anwendungen sind also relevant und welche Infrastrukturen müssen dafür geschaffen werden? Und welche sind eher überflüssig und treiben Energieverbrauch und Datentransfer gerade unnötig in die Höhe? Die Antworten auf diese und weitere Fragen sollten in kommunalen Digitalisierungsstrategien gefunden werden.
7 | Arbeitswelt
Digitale Möglichkeiten haben die Arbeitswelt schon in den letzten Jahren sehr verändert. Doch vielen Menschen, Unternehmen bis hin zu politischer Arbeit und öffentlichen Verwaltungen offenbaren sich gerade zum ersten Mal die Möglichkeiten von home office und Videokonferenzen. Pendlerverkehre und Dienstreisen sind derzeit in vielen Branchen massiv reduziert, Büroräume verwaist. Natürlich zeigen sich auch Grenzen. Persönliche Gespräche, Treffen und Veranstaltungen sind in vielen Bereichen und Formaten wichtig. Doch es bleibt zu prüfen, welche Wege tatsächlich notwendig sind und wie mobiles Arbeiten eine effizientere Nutzung von Räumlichkeiten (zu Hause und im Büro) möglich macht.
8 | Kultur
Ein besonders betroffener Wirtschaftszweig ist der Kulturbereich. Nicht nur Theater, Kinos und Musikhäuser sind geschlossen, auch Gastronomiebetriebe, die mit Konzerten, Lesungen und allgemein geselligem Zusammensein viel zu dem kulturellen Leben einer Stadt beitragen. Nun sind Kulturschaffende von Natur aus eher kreative Menschen. Dafür finden sich auch jetzt vielfältige Beispiele: Online-Konzerte, Kabarett aus dem Wohnzimmer, Musikunterricht per Video, virtuelle Ausstellungen. Gleichzeitig wird deutlich, dass das kein gleichwertiger Ersatz dafür ist, Veranstaltungen gemeinsam zu erleben. Kultur in der Stadt ist ein wesentlicher Pfeiler für ein gesundes soziales Miteinander. Umso wichtiger, ihre Wiederbelebung zu unterstützen – und zu erhalten.
9 | Stadt & Gesundheit
Gesundheit – wie wichtig sie ist, ist das allgegenwärtige Thema dieser Tage. Sie ist die Grundlage für alles Vorhergenannte, die Basis für eine soziale, wirtschaftliche und nachhaltige Gesellschaft und ein grundlegendes Menschenrecht. Ein funktionierendes Gesundheitssystem mit entsprechender Ausstattung ist dabei aber nur eine Seite. Die gebaute Umgebung unserer Städte, Grünflächen, Wasser- und Energieversorgung, Abfallwirtschaft und Sauberkeit bis hin zur Sicherheit sind dabei ebenso wichtig, sowohl für die körperliche wie auch die psychische Gesundheit. Gerade der derzeit reduzierte Autoverkehr ist aufgrund der besseren Luftqualität und der reduzierten Lärmbelastung ein gesundheitliches Benefit für die Anwohnerinnen und Anwohner sonst viel befahrener Straßen. Städte müssen nicht nur in der Lage sein, Krankheiten zu bekämpfen. Sie sollten vor allem auch Orte sein, wo Gesundheit erhalten bleibt.
Lehren für den Wandel
1 | Ein Shut Down ist kein Klimaschutz
Die Berichte zu den positiven Umwelteffekten der Corona-Krise sollten uns nicht in trügerischer Sicherheit wiegen. Die „nachholende“ Entwicklung als Reaktion der Wirtschaftskrise vor gut zehn Jahren zeigt, dass dies maximal eine kurze Verschnaufpause ist. Im Anschluss besteht die Gefahr, dass umso mehr Energie und Ressourcen verbraucht und Emissionen emittiert werden. Die Berichte zeigen nur eins: Wie schnell unsere Umwelt in der Lage ist, sich zu regenerieren, wenn wir ihr die Möglichkeit dazu geben.
2 | Aus Erfahrungen Konsequenzen ziehen
Viele unserer Gewohnheiten haben sich in den letzten Tagen in einer Radikalität verändert, die wir noch vor wenigen Wochen für unmöglich gehalten hätten. Hamsterkäufe auf der einen, große Solidarität auf der anderen Seite sind nur ein Beispiel dafür. Es gilt jetzt zu hinterfragen, welche Routinen wir wieder aufnehmen und welche wir hinter uns lassen können. Wenn wir uns im Nach-Corona-Konsumrausch nicht für Fernreisen und Shopping-Touren sondern für soziale Begegnungen und Engagement vor Ort zur Wiederbelebung unserer Städte entscheiden, wird das nicht nur uns sondern auch dem Klima (weiter) gut tun.
3 | Politik nach bestem Wissen und Gewissen
Nach einer Phase der zunehmenden Diskreditierung von Wissenschaft, die sich sehr deutlich in der Diskussion um den Klimaschutz zeigte, wird heute klar, wie wichtig wissenschaftliche Erkenntnisse sind, um in der Politik relevante Entscheidungen zu treffen – selbst wenn Prognosen mit Unsicherheit behaftet sind. Wir sehen, dass eine entschlossene und zielgerichtete Politik möglich ist. Wesentliche Unterschiede zwischen der Eindämmung einer Pandemie und des Klimawandels sind: Die Geschwindigkeit der Corona-Krise macht nötig, dass die Regeln unseres Handelns auf Basis medizinischer Ratschläge definiert werden. Auch die Geschwindigkeit der Klimakrise verlangt dringende Maßnahmen, doch können (und müssen!) wir die gemeinsam diskutieren, abwägen und entscheiden. Und: für eine konsequente Klimaschutzpolitik brauchen wir unsere Wirtschaft und Sozialleben nicht auf Null runterfahren - im Gegenteil! Nur verändern.
4 | Solidarität ist weiter gefragt
In der Corona-Krise ist Rücksichtnahme gefragt, besonders die von jüngeren Menschen gegenüber Älteren, um Gefahren für Gesundheit oder gar Leben von Mitmenschen zu minimieren und abzumildern. Nach Corona sollten sich die Älteren mit der Jugend solidarisch zeigen und Klimaschutz endlich ebenso entschlossen umsetzen, wie die Bekämpfung dieser gesundheitlichen Krise.
Die Autorin dankt ihren Kolleg*innen Jan Kaselofsky, Michaela Roelfes, Mona Treude und Steven März für ihre wertvollen Hinweise bei der Erstellung dieses Beitrags.