Ein Gastbeitrag von Verena Hermelingmeier, Zentrum für Transformationsforschung und Nachhaltigkeit (TransZent) der Bergischen Universität Wuppertal
Letzte Woche hat die Bundesregierung die Klimabilanz 2019 vorgestellt und gleichzeitig davor gewarnt, in Zeiten der Corona-Krise positive Effekte auf das Klima zu überschätzen. Nur weil aktuell jede Menge CO2 eingespart werde, sei dies auf die Zeit des Ausnahmezustands beschränkt Und auch umgekehrt wird derzeit argumentiert: Über das Klima nachzudenken, können wir uns gerade nicht leisten. Doch gerade diese Krise hat das Potenzial, zu einem Lehrstück für den Umgang mit der Klimakrise zu werden: Über die Parallelen zweier Krisen einer globalisierten Gesellschaft im 21. Jahrhundert.
Die Corona-Krise scheint aus dem Nichts gekommen zu sein. Irgendwo in Wuhan, China, brach eine seltsame Lungenkrankheit aus – was sollte das mit Europa, mit Deutschland, gar mit der eigenen Heimatstadt zu tun haben? Es hat gerade einmal zwei Monate gedauert, bis die Krise die ganze Welt in Beschlag genommen hat. Innerhalb kürzester Zeit konnte sich ein vermeintlich lokales Phänomen auf dem gesamten Globus ausbreiten. Es hat nicht nur die Weltwirtschaft, sondern unser aller Leben lahmgelegt. Letzte Woche noch hat man im persönlichen Umfeld gehört, man sei „ganz entspannt“, heute vermeidet man jegliche sozialen Kontakte und fragt sich: Wie konnte es in unserer zivilisierten Welt zu solch einer Pandemie kommen? Zwischen der Sicherheit, ein solches Szenario sei höchstens Material für einen dystopischen Blockbuster und der gelebten Realität, liegt genau eine Woche.
So zumindest die eigene Wahrnehmung. Denn eigentlich waren sowohl die Ausbreitung des Virus als auch die Folgen einer Erkrankung vorhersehbar – rückblickend betrachtet. Die ganze Welt hat zugesehen, wie Wuhan gegen das Virus kämpfte und Italien folgte, wie ganz Europa nach und nach zum Epizentrum des Virus wurde. Virologen warnten frühzeitig vor einer weltweiten Ausbreitung des Virus, Infektionen wurden an immer mehr Stellen nachgewiesen, auch als die Zahlen der Infektionen exponentiell anstiegen, nahm das Leben in den meisten Ländern noch immer seinen gewohnten Lauf – bis radikale Maßnahmen unumgänglich wurden. Für eine Vermeidung der Ausbreitung war es längst zu spät, es ging auf einmal nur noch um Schadensbegrenzung und das „Abflachen der Kurve“.
Der Verlauf dieser Krise kommt einem so seltsam bekannt vor, sie scheint in vielen Punkten den bisherigen Verlauf der Klimakrise im Zeitraffer wiederzugeben: In den letzten Jahren haben sich die Symptome des Klimawandels an vielen Stellen gezeigt. Wetterextreme haben sich gehäuft, heißeste Sommer, wärmste Winter, heftigste Stürme, Überflutungen und australische Brände drängen sich in den aktuellen Statistiken. Berichte über Trauerfeiern für tote Gletscher und ums Überleben kämpfende Eisbären rühren zu Tränen. Und trotzdem: Irgendwie waren die meisten dieser Meldungen weit weg von der individuellen Lebenswelt. Klimaforscherinnen und –forscher warnen seit Jahrzehnten vor den drohenden Auswirkungen des Klimawandels und doch brauchte es das Aufkommen der Fridays for Future Bewegung, um diese Warnungen auf die Tagesordnung zu bringen. Laut Prognosen ist eine Erwärmung der Erde mit entsprechenden Folgen nicht mehr abzuwenden. Würden sofort radikale Maßnahmen ergriffen, könnte man noch die 1,5 Grad erreichen – viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler halten dieses Ziel schon jetzt für unwahrscheinlich. Wir sind schon mittendrin in der Phase, in der es um Schadensbegrenzung, um das Abflachen der steigenden Erwärmungskurve geht. Die Folgen des schon längst stattfindenden Klimawandels sind zwar in Szenarien formuliert, doch noch längst nicht in vollem Maße abschätzbar. Die Erwärmung selbst kann vielleicht mit Infektionsketten gleichgesetzt werden – beides ist irgendwann nicht mehr im Einzelnen nachvollziehbar, aber man kennt die Mechanismen. Doch die Auswirkungen der Erwärmung auf komplexe Systeme – Lebewesen, Gewässer, Böden, Wälder – sind ähnlich schwierig vorhersehbar, wie das im Falle einer Infektion für individuelle Körper gilt. Es gibt natürlich Risikofaktoren, aber es gibt auch Fälle, in denen schwere Verläufe überraschend auftreten. Und es gibt Risikogruppen in unserer Gesellschaft, die stärker betroffen sind als andere – im Falle des Coronavirus gilt das für Menschen höheren Alters, im Falle der Erderwärmung ist es genau umgekehrt: Es sind die Allerjüngsten sowie die noch nicht einmal Geborenen, die mit den Auswirkungen am meisten zu kämpfen haben werden.
Doch es sind nicht nur intergenerationale Gefälle, die Risikogruppen ausmachen. Auch innerhalb von Generationen gibt es geografische Gefälle: Während es sowohl in der Coronakrise als auch in der Klimakrise maßgeblich die Bewohner*innen der Industriestaaten sind, die die Krisen durch ihren globalen Lebensstil befeuern, werden die Auswirkungen anders verteilt sein: Es sind letztlich die Länder mit den schwächsten Gesundheitssystemen, die dem neu eingeschleppten Virus nichts entgegenzusetzen haben und es sind oftmals die ärmsten Länder, die mit den Folgen des Klimawandels in Form von Dürren oder anderen Wetterextremen am meisten zu kämpfen haben.
Im Kampf gegen die Ausbreitung des Coronavirus wird weltweit unterschiedlich vorgegangen. Deutlich wird: Krisen verleitet zu nationalstaatlichen Alleingängen. Unter diesen Alleingängen findet sich ein Spektrum von radikaler Abschottung und autoritärem Durchgreifen, über zögerliche Kompromisslösungen, bis hin zum populistischen Dreiphasenmodell aus Leugnung des Problems, Schuldzuweisungen und dramatischen Kriegsrhetoriken. Populismus, so lernen wir einmal wieder, ist schon in guten Zeiten keine Lösung, in Krisenzeiten jedoch erst Recht keine Lösung, worauf auch Jan Ross in der Ausgabe der Zeit vom 12.3. hinweist. Und auch nationalstaatliche Lösungen bieten keine Antwort auf hausgemachte Herausforderungen einer globalisierten Welt. Weder Viren noch klimaschädliche Gase lassen sich von geopolitischen Grenzen beeindrucken. Sie erfordern Lösungen, die dem globalen Ausmaß der Herausforderungen gerecht werden.
In der Systemfrage – autoritär oder demokratisch - scheint der autoritäre Weg einiger asiatischer Staaten im Resultat der effektivste zu sein: Radikale Verordnungen und Verbote, wie sie auch unter dem Stichwort „Ökodiktatur“ in Bezug auf die Klimakrise schon mal im Gespräch sind, führen schnell zum gewünschten Ergebnis – ohne jedoch die langfristigen gesellschaftlichen Kosten einer unmündigen Bevölkerung einzupreisen. Der demokratische Gegenentwurf wird in den Ländern Europas zur Zeit in unterschiedlich ausgeprägten Balanceakten auf die Probe gestellt. Während einige Staaten nach zögerlichem Start ebenfalls zu der radikalen Maßnahme der Ausgangssperre gegriffen haben, versuchen es andere – so auch Deutschland – weiterhin mit dem eindringlichen Aufruf zur Solidarität. Das Risiko dabei: Es gibt immer Trittbrettfahrer, die sich nicht angesprochen fühlen – „auf den Einzelnen wird es ja wohl nicht ankommen“. Und es gibt die Ignoranten und Hedonisten, die sich trotzig jeder Einschränkung ihres individualistischen Lebensideals entgegenstellen. Wir wissen also nicht, ob die Maßnahmen reichen werden. Vielleicht fragen wir uns hinterher: Warum hat die Politik bloß so lange gewartet? Das zögerliche Verhalten, mit dem die Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft minimiert werden soll, könnte sich als Milchmädchenrechnung entpuppen, weil die Kosten der Schadensbegrenzung hinterher umso höher sind.
Und trotzdem: Die Chance, an dieser Krise als Gesellschaft zu wachsen ist groß: Es ist zu hoffen, dass wir als Gesellschaft dafür sensibilisiert werden, wie verletzlich wir als Kollektiv sind. Und dass die Wahrnehmung, dass es in Krisenzeiten auf die Solidarität jedes Einzelnen ankommt, im kollektiven Gedächtnis verbleibt. Es ist zu hoffen, dass wir aus dieser beispiellosen Ausnahmesituation lernen, nicht zu lange wegzuschauen, sondern frühzeitig Anzeichen einer drohenden Krise wahrzunehmen. Es ist zu hoffen, dass jeder Einzelne für sich abwägt, ob frühzeitige Anpassung des eigenen Verhaltens nicht doch besser ist als das Hineinsteuern in eine ungleich größere Menschheitskrise.
Denn im Vergleich zur Klimakrise ist die derzeitige Pandemie nicht mehr als eine Aufwärmübung. Damit sollen keinesfalls die schweren Krankheitsverläufe und die tödlichen Folgen für viele Menschen verharmlost werden. Im Gegenteil, es soll verdeutlicht werden, mit welcher Mammutaufgabe wir es im Falle der Klimakrise zu tun haben. Mit den Worten Angela Merkels in ihrer Fernsehansprache letzte Woche: „Es ist Ernst. Nehmen Sie es auch Ernst.“ Wenn wir uns das als Gemeinschaft zu Herzen nehmen, dann gilt aber auch Merkels weitere Ausführung, dass wir nicht tatenlos zusehen müssen, sondern den Verlauf der Krise noch weitgehend in der Hand haben – das gilt für die Eindämmung des Coronavirus sowie der globalen Erwärmung.